Hallo!
Damit es bei dieser Textwand überhaupt zu einer Antwort kommt, gehe ich stückweise vor.
Ein paar Einwände, welche die Übersetzung und Deutung von X/72 betreffen:
1.
Denn es ist nicht der Stil des Nostradamus, unvollendete lateinische Bruchstücke, die auch noch ergänzt werden müssen, zu benutzen ("an(nus) mil(lennium) novum cens(eo) non ante novem sept(em) mois”" ??).
Obiges hat auch niemand behauptet (oder ist jedenfalls nicht die für mich abschließende Deutung der Zeile). Wie kommst Du darauf? Die erste Zeile ist tatsächlich relativ unlateinisch zu übersetzen.
Originaltext:
L’an mil neuf cens nonante neuf ſept mois
Du ciel viendra vn grand Roy deffraieur
Reſuſciter le grand Roy d’Angolmois.
Auant apres Mars regner par bon heur.
Die erste Zeile läßt sich tatsächlich übersetzen mit: "Das Jahr 1999, sieben Monate"
BBouvier und ich haben das tatsächlich an mehreren Stellen vergleichbar gehandhabt.
- Brief an Heinrich II.:
Et depuis la fin du deluge iuſques à la natiuité d’Abraham, paſſa le nombre des ans de deux cens nonante cinq.
"Seit dem Ende der Sintflut bis zur Geburt Abrahams vergingen 295 Jahre."
Et depuis l’edification du temple iuſques à Ieſus Chriſt ſelõ la ſupputation des hierographes, paſſerent quatre cens nonante ans.
"Vom Bau des Tempels bis Jesus Christus vergingen gemäß der Berechnung der Bibelkundigen 490 Jahre."
& durera ceſte icy iuſques l’an mil sept cens nonante deux que l’on cuydera eſtre vne renouation de ſiecle:
"Es dauert dieses (unser Zeitalter) hier bis zum Jahre 1792, wenn man eine Erneuerung des Zeitalters wähnt."
- I/47:
L’an mil ſept cens feront grands emmenées,
"Im Jahre 1700 machen sie große Beutezüge"
- III/57:
Taintz en ſang en deux cens nonante an:
"Gefärbt mit Blut in zweihundertneunzig Jahr."
- III/77:
L’an mil ſept cens vingt & ſept en Octobre:
"Das Jahr 1727 im Oktober."
- VI/2:
En l’an cinq cens octante plus & moins,
"In dem Jahr fünfhundertachtzig mehr und weniger,"
En l’an ſept cens, & trois cieux en teſmoings.
"In dem Jahr siebenhundert und drei jene dessen Zeugen."
- VI/57:
L’an mil ſix cens & ſept, de Liturgie.
"Das Jahr tausendsechshundert und sieben der Liturgie."
- VIII/71:
L’an mil ſix cens & ſept par ſacre glomes
"Das Jahr 1600 und 7 durch heilige Verwicklungen,"
- X/91:
Clergé Romain l’an mil ſix cens & neuf,
"Römischer Klerus, das Jahr eintausend sechs hundert und neun,"
"Das Jahr 1999, siebten Monate" ist angesichts dessen die richtige und völlig legitime Übersetzung!
Wenn wir davon abweichen, ist das eher der Versuch, den Vers durch Mutmaßung eines doppelten Bodens auf etwas anderes zu beziehen, weil sich Nostradamus andernfalls offensichtlich geirrt hätte.
Wir postulieren daher:
"Cens" gibt es im modernen und mittleren Französisch als Substantiv ("Zensus", "Schätzung") und im Mittelfranzösischen darüber hinaus als "censer". Da "Zensus" hier nicht paßt, ist davon auszugehen, daß es sich tatsächlich um eine abgeschliffene Verbform von "censer" handelt, vermutlich um "je cense" ("ich schätze").
"Nonante" wäre in Wirklichkeit Latein: "non ante" ("nicht vor").
Das erscheint angesichts der vielen Gegenbeispiele abwegig, ist aber möglich.
Die Übersetzung lautete dann: "Das Jahrtausend neu, ich meine, nicht vor neun, sieben Monate"
2.
Als Nostradamus lebte, konnte man schon Sonnenfinsternisse im voraus berechnen, da der Saroszyklus bekannt war, Sichtbarkeitsbereich und genauer Zeitpunkt allerdings noch nicht.
[...]
Und so eine totale, im Jahrhundert einmalige Sonnenfinsternis, die über ganz Europa zog, hätte damals sicher einen großen Schrecken als Vorankündiger von Seuchen, Kriegen u.ä. verbreitet. Und aus dieser Sicht dürfte zweifelsohne die Sonnenfinsternis im August 1999 das Ereignis sein, das Nostradamus meinte und kein anderes.
Konnte man damals nun berechnen, wo die Sonnenfinsternis erscheinen würde, so daß Nostradamus sie als über ganz Europa ziehendes Unheilszeichen gemeint haben könnte, oder nicht?
3.
Nebenbei bemerkt: Mit dieser Finsternis ist eine weitere Bestätigung der Papstsequenz in der Malachiasweissagung erfolgt und damit ein weiterer Schritt auch in diesem Countdown geschehen.
1. Malachias ist eine seit Jahrhunderten nachgewiesene Fälschung. Ihn immer wieder auszugraben, hilft einem nicht unbedingt beim Aufbau einer nachvollziehbaren Argumentation.
2. "De labore Solis" heißt "Von der Mühe der Sonne", nicht aber "Von der Bedrängnis der Sonne" oder desgleichen. "Labor" ist "Arbeit" im Sinne einer Werktätigkeit oder schwierigen Aufgabe und damit verbundenen Beschwerlichkeit. "De labore Solis" heißt also "von der Arbeit/Tätigkeit/Anstrengung der Sonne". Dieser Papst wird in der Malachiasfälschung also als sonnengleich, die Tätigkeit und den Willen der Sonne (Gottes) vollziehend und die damit verbundene Bürde ertragend bezeichnet.
Arbeit als Mühseligkeit, Bedrängnis, Not, Plage etc. ist nicht als Bedrängnis von außen zu verstehen sondern als Attribut, das man mit einer von einem selbst verrichteten Arbeit verbindet. Wäre hier von einer Sonnenfinsternis die Rede (Bedrängnis der Sonne von außen bis zum Verschwinden), dann müßte dort "de angustiis Solis", "de necessitate Solis", "de defectione Solis" oder desgleichen stehen. Man sollte schon Latein können, wenn man sich an solche Dinge heranwagt, was viele der eine Sonnenfinsternis hineinlesenden entweder nicht taten oder es mutwillig ignorierten, um das gewünschte Ergebnis zu erhalten.
4.
Vom Himmel kommt ein großer Schreckenskönig.
Im Originaltext steht nicht "d’effrayeur" sondern "deffraieur".
Letzteres leitet sich vom Verb "défrayer" ab. Dieses hat im Mittelfranzösischen zwei mögliche Ableitungen:
"frangere": Dann bedeutet es so viel wie "freimachen" (und zwar durchaus wirtschaftlich).
"(ex)fridare": Dieses ist tatsächlich eine pseudolateinische Wortschöpfung aus dem Germanischen. "Fridare" von "Frieden". "Exfridare", wovon sich tatsächlich "effrayer" ("schrecken") ableitet, bedeutet wörtlich "aus-frieden", also des inneren Friedens entledigen. "Défrayer" scheint in diesem Sinne das Gegenteil zu sein, nämlich "be-frieden". Dem entsprechend wird es noch im heutigen Französisch mit der Unterbedeutung "amuser" geführt: "Défrayer la compagnie de bons mots, de plaisanteries" heißt: "eine Gesellschaft mit schönen Worten, mit Scherzen erfreuen".
Ein "défrayeur" ist dementsprechend ein "Freimacher" bzw. "Befreier" oder ein "Befrieder". Der "d’effrayeur" kam erst in späteren Gesamtausgaben der Centurien auf. In keiner Erstausgabe von 1568 gibt es eine Vorlage für diese Variante, so daß davon auszugehen ist, daß der "Schreckenskönig" ein Produkt späterer Verfälschung ist. Es ist kein "Schreckenskönig", sondern ein "König über den Schrecken".
Wieviel bleibt unter diesen Gesichtspunkten noch von Deiner Detung (bzw. der populären Deutung) von X/72 übrig?
Vor allem der "Schreckenskönig" zerfällt bar jeglicher sprachlichen Grundlage völlig zu Staub.
Wir stellen fest:
1. Je nach Beginn des Jahres scheint der Juli (heutige Zählung) oder September (nach dem ursprünglichen Jahresbeginn im März) 1999 als legitime Übersetzung der ersten Zeile dazustehen.
2. "König Befreier" ist in der zweiten Zeile gemeint. Dies ist die einzige wortgetreue Übersetzung. Was auf "Schreckenskönig" abzielt, entspringt einer späteren Verfälschung des Urtextes und ist falsch!
3. Die Deutung auf August 1999 und die Sonnenfinsternis als "Schreckenszeichen" ist daher ebenso falsch und abwegig. Auch die darauf zielende Interpretation der Malachiasfälschung ist abwegig nicht nur, weil Malachias eine Fälschung ist, sondern auch, weil eine lateinischem Wortsinn und Sprachgefühl nicht entsprechende Übersetzung gewählt wurde.
4. In diesem Lichte scheint Nostradamus für 1999 tatsächlich das Auftreten des "großen Monarchen" vorausgesagt zu haben, der vom Himmel gesandt das untergegangene Geschlecht Valois-Angoulême wiederbeleben und als Herr über den Schrecken, als Befreiungs- und Friedenskönig in einem Zeitalter des Friedens herrschen sollte. Da Nostradamus Chyren an anderer Stelle durchaus Blois zuordnet, wo nach dem Untergang des Hauses Valois keine französischen Könige mehr residierten, liegt die Vermutung nahe, daß Nostradamus Chyren für jenen Friedensherrscher hielt, der aus dem Hause Valois-Angoulême stammend jenes wiederauferstehen lassen sollte. Das Jahr 1999 stellt schon durch die Jahreszahl eine Zeitenwende dar, auf welche Nostradamus Chyrens Auftreten projiziert zu haben scheint. Die wenigstens als pauschale Erscheinung vorausberechenbare Sonnenfinsternis 1999 könnte dabei eine Rolle gespielt haben. Stimmt diese naheliegende Deutung, so wäre X/72 ganz offensichtlich von Grund auf falsch, weil der erhoffte Friedensherrscher vor 20 Jahren ausblieb und bis heute nicht aufgetreten ist. Putin kann diese Rolle für Europa keineswegs ausfüllen.
So steht man an dieser Stelle vor den Alternativen, Nostradamus als einen doch nicht so großen Meister anzuerkennen, als gemeinhin geglaubt wird, oder mit der Deutung auf Heinrich IV. mittels eines doppelten Bodens dem Leser ein interessantes Hintertürchen zu schaffen.
Gruß
Taurec
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„Es lebe unser heiliges Deutschland!“
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„Was auch draus werde – steh zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“