Fundstück: "Kriegsausbruch" (Schauungen & Prophezeiungen)

HJH, Samstag, 19.07.2008, 16:08 vor 5906 Tagen (4841 Aufrufe)

Tag zusammen

Aus Erich Weinart "Das Zwischenspiel"; politische Lyrik von 1918 bis 1933:

Kriegsausbruch
Eine Vision

Alexanderplatz. Windige Nacht. Halb vier.
Ein Schupo schlendert durch sein Revier.
"Na Kleiner, wie is denn!" - "Laß mich in Ruh!"
Die letzte Kneipe macht zu.

Ein Kutscher kommt aus dem Kaffeekeller.
In den Wolken singt ein Propeller,
Ganz leise, in weiter Ferne.
Ein Kutscher guckt in die Sterne.

"Herr Wachtmeister, det sind doch mehr!"
"I wo, das ist unser Luftverkehr!"
"Ick kenn doch det Jeräusch aus Flandern!"
"Sie haben recht. Jetzt hör´ ich die andern."

Ein Schupo lauscht. Das Surren nimmt zu.
Ein Mann bleibt stehen und sagt:"Nanu!
Was ist denn? Das werden ja immer mehr!"
"Herr Wachtmeister, hörnse? Maschinengewehr!"

Plötzlich ein Pfeifen, ein Knall, ein Krach.
Feuerschein überm Bahnhofsdach.
Aus dem Präsidium brüllt ein Mann:
"Der Krieg fängt an! Der Krieg fängt an!"

Schon werden die Fenster aufgerissen.
Die Leute schreien. Sie wollen was wissen.
"Was ist passiert?" Sirenenpfiff!
"Stettiner Bahnhof brennt! Gasangriff!"

Unheimliches Heulen, Donnern und Flammen,
Aus allen Straßen rennt es zusammen.
Ganz dicht überm Platz brüllt ein Propeller.
"Schnell in die Untergrund, in die Keller!"

Überall flammen die Explosionen.
Dazwischen donnern die Abwehrkanonen.
Aus seinem Wagen kreischt ein Chauffeur:
"Von den Linden kommt eine Wolke her!"

Die wimmelnden Menschen schreien und jammern.
Jeder will sich ans Auto klammern.
Sie treten sich tot. Entsetzliche Schreie.
"Fahren! Rennen! Ins Freie - ins Freie!"

Am Königstor schlägt eine Bombe ein.
Sie brüllen:" Nicht nach dem Friedrichshain!"
Über den Platz schreit ein Feuerwehrmann:
"Von der Königstraße kommt Gas heran!"

Sie wissen nicht mehr, wohin sie laufen.
Tausende rennen sich übern Haufen.
Die Wolke kommt, Tausende sinken um,
Wohin sie greift, da wird alles stumm.

Um Viertel nach viere ist tiefe Ruh.
Der graue Schwaden deckt alles zu.
Der Krieg fängt an! Der Krieg ist da!
Warum schreit denn kein Mensch hurra?

-.-.-.-

Verfasst 1929. Autor unbekannt da Erich Weinart alle Gedichte im Buch (690 S.)
wohl zusammengetragen hat ohne die eigentlichen Verfasser der zumeist politische Gedichte und bezugnehmend auf Zu- und Umstände jener Zeitspanne. Erstauflage: 1950, Verlag "Volk und Welt; Berlin.

Ich verneine einen Bezug dieser Vision von 1929 zu 1945, als der Russe Berlin stürmte, da mir nichts von Gasangriffen auf Berlin bekannt? Evtl. nahm der Verfasser Bezug auf WKI, wegen Gasangriffen zu dieser Zeit (allerdings nicht auf Städte!). Dennoch scheint diese Vision (steht extra unter dem Gedichttitel drunter "Eine Vision") authentisch. Zudem scheint es sich beim ersten Betrachten um einen Überraschungsangriff zu handeln (nachts, halb vier). "Die Wolke" scheint größeren Ausmaß zu sein, "graue (wohl Gas)-Schwaden"=gelber Strich?, den man während der Nacht nur als grau erkennen mag?(bez. der Autor dies so "sah"). Jedenfalls flächendeckend und innerhalb kürzester Zeit absolut tödlich!

Andererseits diese Zeilen:

Aus dem Präsidium brüllt ein Mann:
"Der Krieg fängt an! Der Krieg fängt an!"

Der Mann scheint einen Krieg zu erwarten...

Auch die "Abwehrkanonen" scheinen vorbereitet..."Maschinengewehr"...?

Beachtlich die genauen Berliner Ortsangaben ("Stettiner Bahnhof brennt" usw.), wo es kracht, wo das Gas hinkriecht, wo man sich besser nicht aufhalten soll...("Von den Linden kommt eine Wolke her!") Vom Stettiner Bahnhof gibt es heute nur noch einen Gebäuderest sowie ein unterirdischer S-Bahnhof/Tunnel (lt. "Wikipedia").

"Königstor", diese Bezeichnung wird erst seit 1991 wieder verwendet, hieß zw. 1910 und 1914 "Platz am Königstor". Diese Bezeichnung wurde 12.Juni 1975 aufgehoben! (lt. "Wikipedia") Meines Erachtens ein sehr wichtiger Hinweis auf die Zukunft, selbst wenn die Bezeichnung "Königstor" sich über die Jahrzehnte im Sprachjargon Berlins hielt und Verwendung fand.

"Das Surren nimmt zu". "Surrten" damalige Flugzeuge oder handelt es sich um modernes Kriegsgerät, oder einfach nur um des Verfassers Auffassung...?

Fragen über Fragen. Mir jedenfalls ist die Vision neu!

Es grüßt
HJörgH

Fundstück: "Kriegsausbruch"

HJH, Samstag, 19.07.2008, 16:25 vor 5906 Tagen @ HJH (4077 Aufrufe)

Ähm, bei dieser ernsten Vision waren die "zwingernden gelben Gesichter" nicht gewollt! Haben sich so ohne mein Wollen eingeschlichen. Lag wohl an den Klammern und sonstiger Satzzeichen meiner schludrigen Anmerkungen...

Gruß

Fundstück: "Kriegsausbruch"

HJH, Samstag, 19.07.2008, 17:06 vor 5906 Tagen @ HJH (4094 Aufrufe)

Andererseits muss der Wachtmeister, der "det Jeräusch aus Flandern!" kennt mittlerweile der älteste, und zudem noch beruflich aktivste Bürger Berlins sein...

Man kann eben nicht alles haben...

Fundstück: "Kriegsausbruch"

Marla, Samstag, 19.07.2008, 22:31 vor 5906 Tagen @ HJH (4140 Aufrufe)

Hallo HJH,

habe dir gerade im z-forum schon was dazu geschrieben.

Das noch: Erich Weinert war Schriftsteller, Satiriker und Lyriker. Möglicherweise hat er also alle Gedichte selber verfasst...?

Und er hatte Ortskenntnisse, da er in Berlin lebte, er trat dort in verschiedenen Kabaretts auf.

Hier noch ein Auszug aus einem relativ bekannten Werk.
"Der heimliche Aufmarsch

Es geht durch die Welt ein Geflüster,
Arbeiter, hörst du es nicht?
Das sind die Stimmen der Kriegsminister,
Arbeiter, hörst du es nicht?
Es flüstern die Kohle- und Stahlproduzenten.
Es flüstert die chem. Kriegsproduktion.
Es flüstert von allen Kontinenten
Mobilmachung gegen die Sowjetunion...."

Da rechnet er wohl schon mit der Möglichkeit einer chemischen Kriegsführung?

Erich Weinert war extrem propagandistisch. Nicht umsonst mußten wir ihn ständig interpretieren. Ich denke, du solltest deine Energien nicht hier verschwenden. Das wäre, sofern es diese Art proletarisch-revolutionärer Gedichte betrifft, zuviel Mühe. LG Marla

Fundstück: "Kriegsausbruch"

HJH, Sonntag, 10.08.2008, 23:33 vor 5884 Tagen @ Marla (3708 Aufrufe)

Hallo Marla

Entschuldigt sei meine späte Antwort. Doch Kröten hinterlassen Lippenbekenntnis ohne ihrem Schleim ein Heimatgefühl hinterlassen zu haben.

Weinert schrieb. Wurde zu seiner Zeit Ikone. Verblassste im Angesicht der Lagermenschen.

Keine Vorwürfe modellierter Denkmodelle. Rondelle drehen sich architektonisch, wie Erdplatten in Bewegung.

Rotation in der politischer Ansicht ist schwergewichtig,
Zeilen die Zeitrechnung im Abschluss/Abfluss.

Lungen brennen mit und ohne Nikotin.

Geister schweben ohne Nylonfäden.

All die Farben, die sie alle sehen,
ist Augenglanz in jungen Jahren so verführten Phasen,
ist Augenring und Käsekuchennasen.

Gruß
HJörgH;-)

Hallo HJH,

habe dir gerade im z-forum schon was dazu geschrieben.

Das noch: Erich Weinert war Schriftsteller, Satiriker und Lyriker.
Möglicherweise hat er also alle Gedichte selber verfasst...?

Und er hatte Ortskenntnisse, da er in Berlin lebte, er trat dort in
verschiedenen Kabaretts auf.

Hier noch ein Auszug aus einem relativ bekannten Werk.
"Der heimliche Aufmarsch

Es geht durch die Welt ein Geflüster,
Arbeiter, hörst du es nicht?
Das sind die Stimmen der Kriegsminister,
Arbeiter, hörst du es nicht?
Es flüstern die Kohle- und Stahlproduzenten.
Es flüstert die chem. Kriegsproduktion.
Es flüstert von allen Kontinenten
Mobilmachung gegen die Sowjetunion...."

Da rechnet er wohl schon mit der Möglichkeit einer chemischen
Kriegsführung?

Erich Weinert war extrem propagandistisch. Nicht umsonst mußten wir ihn
ständig interpretieren. Ich denke, du solltest deine Energien nicht hier
verschwenden. Das wäre, sofern es diese Art proletarisch-revolutionärer
Gedichte betrifft, zuviel Mühe. LG Marla

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