Danke, Ulrich!
Jahenny klingt in meinen Ohren wie ein Echo von Taigi, und auch an anderen Vorlagen hat es ihr nicht gemangelt
Bei Jahenny kamen über 67 Jahre angeblich 70.000 Protokollseiten ihrer Ekstasen zusammen. Die Dame scheint ähnlich Lorber einem beständigen Schwall ausgesetzt gewesen zu sein.
Der Fall an sich ist gewiß echt. Wer erfindet schon freiwillig solche Unmengen, die ohnehin kaum jemand liest? Wir kennen aus dem ganzen Material wohl nur das, was man als crème de la crème bezeichnen könnte.
Allerdings: Der Hauptteil der Protokolle, der den von Brüdern Adolf und August Charbonnier angefertigt wurde, soll bis 1972 verschollen gewesen sein.
Ich sehe zwei Möglichkeiten.
1. Die Entitäten, die sich Jahenny mitteilten, stammten selbst aus dem katholischen Milieu, glaubten an die Mythologie und die Endzeitprophetie mit ihren gängigen Motiven, die sich über Jahrhunderte herausgebildet haben:
- Verfolgung der Kirche in der Endzeit
- Spaltung der Kirche, bzw. Abfall der Kurie vom Papst
- Flucht des Papstes
- Herrschaft des Antichristen
- Gottes Strafgericht in Form der dreitägigen Finsternis mit Donner und Erdriß (echtes Einsprengsel?)
Von einem "großen Monarchen", der insbesondere in der französischen Prophetie eine Rolle spielt und fester Teil dieses Komplexes ist, ist mir bei Jahenny allerdings nicht in Erinnerung. Nabelschau auf den geistlichen Bereich des Geschehens?
Hinzu kommen bei Jahenny allerdings, höchstwahrscheinlich als Zeitkolorit des 19. Jahrhunderts, "rote Revolutionen".
Im wesentlichen scheint es sich bei Jahenny nicht um echte Schauungen zu handeln, sondern (meine Vermutung) um christliche Endzeitmythologie, die auf übersinnlichem Wege von entkörperten christlichen Wesen zurückübermittelt wurde.
2. Man hat nachträglich die Protokolle durch Anähnelung an den christlichen Prophezeiungshauptstrom manipuliert. Wie wahrscheinlich ist das?
Wenn es um die Frage nach kirchenpropagandistischer Fälschung im ausgehenden 19. Jahrhundert geht, sollte man schauen, was über Jahenny zu dieser Zeit bereits veröffentlicht wurde, da man solche Fälschungen kaum bis 1972 in der Schublade vergessen, sondern genutzt hätte.
Nicht auszuschließen ist, daß man bereits zwischen 1873 und 1888, als sie den Großteil ihrer Botschaften bekam, die Protokolle durch Abschreiben aus zeitgenössischer Prophezeiungsliteratur aufpoliert hat.
Der Historiker und Pulitzer-Preisträger David Kertzer hat in seinem Buch "Prisoner of the Vatican. The Popes' Secret Plot to Capture Rome from the New Italian State." im Jahre 2004 ein weitgehend unbekanntes Kapitel der jüngeren Kirchengeschichte ausgegraben:
Der ab 1870 bis Ende der neunziger Jahre des 19. Jh. sowohl unter Pius IX als auch Leo XIII aus- und immer wieder umgearbeitete Plan zur Wiederherstellung der weltlichen Macht des Vatikans sah laut Kertzer sowohl Papstflucht und Anschlag/Ermordung unliebsamer Politiker vor, als auch - mit militärischer Hilfe Frankreichs oder Österreichs - die Rückeroberung Roms durch/für den Vatikan. ("Thus a campaign of intrigues, some involving assassination attempts on revolutionary and monarchical leaders, some seeking the intervention of France and Austria, the two leading Catholic powers of the time, against the Italian government." https://www.kirkusreviews.com/book-reviews/david-i-kertzer/prisoner-of-the-vatican/ )
Fast schon überflüssig zu erwähnen, daß auch die Krönung eines Monarchen nach erfolgreicher Durchführung des Plans angedacht war.
Das sind für meinen Geschmack zu viele Elemente, in denen eine langjährig geplante politische Intrige mit gleichzeitig sich verbreitenden "Prophezeiungen" übereinstimmen, als daß sich nicht die Frage aufdrängt, ob in diesen Jahren ab 1870 nicht kirchlicherseits Prophezeiungen "produziert" bzw. "ausgeschmückt" wurden. Nicht etwa, wie Du schreibst, "um den Antichristen zu kolportieren", sondern mit der selbstgefälligen Überheblichkeit derer, die dann sagen können: "Haben wir es nicht prophezeit?"
Kurzum, ich meine, die Quellen aus kirchlichem Milieu sollten dringend hinsichtlich bewusster Fälschung zum Zwecke kirchenpolitischer Propaganda untersucht werden.
Es würde mich nicht wundern, wenn sich herausstellt, daß sich die Taigi/Jahenny-Vision der biblischen dreitätigen Finsternis schon seit 1929 mit der Klärung der "römischen Frage", mit dem Kuhhandel der Lateranverträge (Pius XI: "Mussolini wurde uns von der Vorsehung gesandt"; 1,7 Milliarden Lire Entschädigung, Steuerabkommen, territoriale Vereinbarung) erledigt hat.
Sehr interessant. Hier scheint der klassische Prophezeiungsablauf als Blaupause für geplantes politisches Geschehen gedient zu haben. Nicht auszuschließen, daß die verantwortlichen Köpfe überzeugt waren, es bei ihren Vorlagen mit echten Prophezeiungen zu tun haben, deren Erfüllung sie nur auf die Sprünge helfen müßten. Letztlich führte es aber nur zu einer neuen Generation Fälschungen, die auf die alten geschichtet wurde, die selbst nicht echt waren, sondern Ausdruck religiöser Naherwartung. Heute setzen unkritische Prophezeiungsautoren in Unkenntnis der Überlieferungsgeschichte und Ursprünge ihrer Motive ihr eigenes Stockwerk auf das uralte Kartenhaus.
Noch über das Motiv der politischen Fälschung, das gewiß, aber nicht alleine eine Rolle spielt, hinausgehend:
Man müßte all diese Endzeitmotive mal schlüssig und lückenlos auf ihre geistigen und literarischen Grundlagen zurückführen, um sie effektiv aussortieren zu können. Arthur Hübscher läßt die Geschichte der Prophetie irgendwann im Barock auslaufen und behandelt die heutigen Prophezeiungen, die uns eigentlich interessieren, ziemlich stiefmütterlich als eine Art Anhang. Dazwischen ist eine gewisse Lücke.
Zudem ist mir nicht gegenwärtig, daß in den mittelalterlichen und spätantiken Prophezeiungen bereits explizit von einer dreitägigen Finsternis die Rede wäre. Ich vermute aber, daß auch die Finsternis im Grunde nur eine Ausgeburt des Endzeitglaubens ist, der sich irgendwann in konkreten Vorstellungen verhärtet hat, die Standardmotiv später Prophezeiungen wurden. Wann und wie das geschah, würde mich interessieren.
Allerdings ist in den letzten Jahrzehnten der in älteren Prophezeiungen unbekannte rötliche Himmelskörper hinzugekommen. Ein völliges Novum - oder doch nicht?
Was mich darüber hinaus interessiert, ist die Frage, ob und wie stark der russische Feldzug mit endzeitlichen Vorstellungen über die Völker Gog und Magog zusammenhängt, bzw. einem Gegner aus dem Osten, der schon im spätantiken Pseudo-Methodius vorkommt. Siehe hier.
Wäre es möglich, daß dieses Motiv später nach Europa wanderte und in Vergessenheit des Ursprungs zunächst an die Türken, später an die Russen geheftet wurde, jene Völker, die in unserer geographischen Lage dem Osten entsprechen? Ein paar Jahrhunderte später sind Antonius von Aachen, Irlmaier und deren Erben der festen Überzeugung, es gäbe einen russischen Feldzug in Deutschland. Womöglich wird dieses und andere Motive, die im metaphysischen Bereich große gedankliche Zentren genährt haben, als Schauungen an entsprechend begabte Menschen zurückgeworfen, so daß es sich um selbsterschaffende Schauungen handelt, bzw. eine Selbstbespiegelung des menschlichen Geistes. Nicht auszuschließen ist, daß lediglich gesehen wird, was die Menschen im erdnahen Jenseits selbst erschaffen haben.
Was mir außerdem auffällt ist die Ähnlichkeit des Pseudo-Methodius mit dem ganzen Chyren-Islam-Szenario, das bei Nostradamus eine große Rolle spielt: Islamische Eroberung Europas und Rückeroberung durch den "großen Monarchen" Henric, der zum christlichen Weltherrscher gekrönt wird und (klassisches Motiv!) die Reichsinsignien am heiligen Grabe in Jerusalem ablegt. Wenn Nostradamus von diesen Vorstellungen beeinflußt ist, tendiert der Gehalt an wahrer Zukunft in diesen Versen gegen null.
Vom klassischen Szenario dürfte bei konsequenter kritischer Betrachtung nahezu nichts übrigbleiben.
Gruß
Taurec
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„Es lebe unser heiliges Deutschland!“
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„Was auch draus werde – steh zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“