Fantasiespiele
Vorschau
Wie viele andere, so habe auch ich mir damals durch das Austragen von Zeitungen ein zusätzliches Taschengeld verdient.
Es war an einem sehr heißen Vormittag im Sommer, dass ich wieder mit meinem Wagen bergauf, bergab gezogen bin. Der Schweiß lief mir vom Gesicht und ich hatte unglaublichen Durst. Trinken war aber erst wieder in einer Stunde drin, wenn ich wieder zu Hause war. Also hielt ich mich mit meiner Fantasie bei Laune. Und so ersponn ich Bilder einer Situation vor meinem geistigen Auge, während ich weiter Zeitungen zustellte. Spielerisch entwickelte ich eine Szene von einem bestimmten Haus (von etwa 300 bis 400 Haushalten, die ich bediente - in der Regel keine Mehrfamilienhäuser). Ich malte mir aus, dass dort eine ältere Frau wohnt. Diese ältere Frau würde genau zu dem Zeitpunkt heraustreten, wenn ich die Zeitung einwerfe. Sie würde mich freundlich fragen, ob ich etwas trinken wolle. Ich würde mich darüber freuen und bescheiden sagen, dass ich gerne ein Glas Wasser möchte. Sie würde mich dann fragen, ob ich es denn mit oder ohne Kohlensäure wollen. „Leitungswasser ist völlig in Ordnung“, sage ich in meiner Fantasie. Dann holt sie es und wir reden noch kurz ein wenig, bevor ich mich verabschiede.
Realität
Die Zustellung bei diesem Haus verlief ohne Besonderheiten. Etwa zwei Wochen später war wieder ein heißer Sommertag. Die Sonne brannte wieder unbarmherzig, und ich hatte, wie immer, nichts zu trinken dabei. An mein „Fantasiespiel“, das mich vor zwei Wochen bei Laune halten sollte, habe ich schon längst nicht mehr gedacht.
Da öffnete sich die Tür an besagtem Haus, als ich die Zeitung hineinwerfen wollte. Eine ältere Dame fragte mich freundlich, ob ich etwas trinken wolle. Sofort wurde mir mulmig zumute, weil ich mich an meine Fantasiebilder erinnerte, die genauso aussahen. Ob ich bei der Hitze nicht etwas trinken wolle, fragte sie. Ich war zutiefst irritiert, es war mir unheimlich und eigentlich wollte ich weg. Aber den Durst konnte ich nicht leugnen. Also fragte ich nach einem Glas Wasser. Mit oder ohne Kohlensäure? Bitte nur ein Glas Leitungswasser. Sie holte es, wir setzten uns kurz an einen schattigen Platz vorm Haus und hielten etwas Smalltalk, während ich mein Wasser trank. Dann verabschiedeten wir uns, wobei ich zusah, möglichst schnell diese wirklich unheimliche Situation hinter mich zu bringen.
Auswertung
Hierbei handelt es sich nicht um eine typische Zukunftssichtung, bei der ich aus dem Traum oder einer außerkörperlichen Erfahrung heraus irgendwo in der Zukunft bin. Ich war der festen Überzeugung, dass ich meine Fantasien selbst entwickelt hatte. Ich hatte damals in meinem Fantasiespiel noch abgewogen, was wohl die schönsten und passendsten Dialoge wären und mich für die entschieden, die ein Bild schufen, das sich möglichst angenehm und harmonisch anfühlte.
Hierfür fehlt mir bis heute eine gründliche Erklärung.