Warten auf Godot (Freie Themen)

Leseratte, Samstag, 21.08.2021, 13:32 (vor 1224 Tagen) @ Taurec (1062 Aufrufe)
bearbeitet von Leseratte, Samstag, 21.08.2021, 13:43

Lieber Taurec,

da will ich dir antworten:

Im Alten Testament gibt es scheinbar zwei einschlägige Texte, das Buch Daniel, und möglicherweise Hesekiel 37ff.

Daniel ist kein prophetischer Text, sondern ein antiken Sinne apokalyptischer, also einer, der sich auf die Ideologie hinter den Imperien bezieht und ihr ein Gesicht verleihen will. Die Tiere aus dem Abgrund sind Chiffren für die Ideologie der Imperien, die nacheinander über Israel bzw. Juda geherrscht haben. Entstanden ist das Buch Daniel, als die Offerte Antiochos IV. Epiphanes man möge in Jerusalem die griechischen Götter in das Judentum integrieren und dagegen Bürgerrechte erhalten, im Raume stand. Zusätzlich nannte sich Antiochus IV. göttlich, Epiphanes. Hatten bislang alle Imperien sich nie in die religiösen Angelegenheiten der unterworfenen Völker eingemischt, lag jetzt die Sache anders, es ging im Buch Daniel um die Frage, inwieweit man sich assimilieren solle. Deswegen wurde nun das griechische Imperium als weiteres, noch böseres, Tier aus dem Abgrund gedeutet, dem man sich partout verweigern solle. Es gäbe nur die Wahl zwischen Gott und der Anbetung des Tieres, keinen Kompromiss.

Für Gläubige, die in Unrechtsregimen lebten oder leben, hat dieser Text eine immense Bedeutung. Die Offenbarung des Johannes wird das Thema wieder aufnehmen und erweitern.

Ezechiel 37 ff. Hier wird es knifflig. Die Schlacht von Armageddon ist einer der großen Mythen schlechthin und der einzige Text im alten Testament, der bezüglich dessen, was wir jetzt als Apokalypse bezeichnen, Prophetie sein will. Aufgenommen wird sie nochmals in der Offenbarung, wenn nach den Tausend Jahren am Ende der Zeit nochmals Gog und Magog freigelassen werden. Auch wird das Muster von Ezechiel wiederholt, wenn nach der Schlacht der neue Tempel vermessen wird. Nimmt man Ezechiel 37 als inhaltlich relevanten Teil der Prophezeiung dazu, kehren vor Armageddon die Juden aus den Gräbern nach Israel zurück und die Prophezeiung würde eine noch spezifischere Einordnung erlauben. Da es seit dem babylonischen Exil bis zum Aufstand Bar Kochbas eine konstante jüdische Bevölkerung in Israel bzw. dem späteren Palästina gegeben hatte, machte Ezechiel 37 überhaupt erst nach 135 n. Chr. Sinn. Sieht man von der Einwanderung einiger kabbalistischer Juden aus Spanien nach 1492 nach Safed ab, begann die große Rückkehr der Juden erst nach dem zweiten Weltkrieg. Würde man die Gründung Israels 1948 als unabdingbare Voraussetzung postulieren, hätten alle Gläubigen zwischen 135 und 1948 sich sagen müssen, hoppla, Armageddon kann ja als Prophezeiung garnicht jetzt passieren, viele Juden leben ja nicht mehr in Israel und sie haben dort keinen Staat. Insofern hätten deine 80 Generationen sich besinnen können und sich sagen, nein, das ist eine Prophezeiung, die, wenn ich sie ernst nehme, aktuell nicht mit der Wirklichkeit deckungsgleich ist. Insofern hätte Ezechiel 38 gerade jahrhundertelang ein Hinweis für die Gläubigen sein müssen, dass die Apokalypse nicht in ihrer Zeit passieren würde, erst jetzt, nachdem es wieder einen jüdischen Staat in Palästina gibt, sieht die Sache anders aus. Aber mit Trinity betrat ja 1945 auch die Möglichkeit die Welt, dass die Menschen sich selbst auslöschen. Insofern ist dein Argument "Nach 2000 Jahren sich wiederholenden Ausbleibens einer Verheißung, die eigentlich für die nähere Zukunft gemacht war" nicht stichhaltig, man hätte sehen können, dass die mythische Schlacht von Armageddon an Bedingungen geknüpft war, die 1800 Jahre lang nicht vorhanden waren.

Das Neue Testament ist die Reaktion auf das Fiasko des ersten jüdischen Krieges. Es gab im Judentum die Hoffnung, man könne die Römer militärisch besiegen und diese Schlacht wäre sozusagen der Sieg über Satan an sich. In die Texte der Evangelien mischt sich in den wenigen Passagen, die vor 70 aufgeschrieben wurden, die Frage nach dem Ende der Zeit mit der des drohenden jüdischen Aufstandes. Für die Damaligen in Israel war beides angesichts der drohenden unfassbaren Grausamkeit der Römer fast dasselbe, weswegen sich die Fragen überschneiden: Wenn Jesus im Tempel oder auf dem Ölberg sprach, hatte er wohl die Atmosphäre von Rebellion, Argwohn und einer brutalen Besatzungsmacht in der den Tempel überragenden Burg Antonia vor Augen. Politisch waren die jüdischen Kriege ein Fiasko, mit Millionen von Toten (die Germanen machten es im Teutoburger Wald besser, die Römer versuchten nie mehr die Elbgrenze herzustellen) und dem Verlust des Landes und des Tempels. Und nun, nach 70, stellte sich für die Christen die Frage, wenn Jerusalem und der Tempel zerstört waren und der zukünftige Kaiser die Ruinen betreten hatte, was sollte man angesichts des Triumphes des Imperiums noch glauben? Da betrat die Offenbarung die Arena und wandelte das Buch Daniel ab: Auf der ideologischen und spirituellen Ebene würden die Christen über das Imperium, das ohnehin dem Ende geweiht sei, siegen. Und die Offenbarung wandelt diesen Bericht so um, dass sie weniger von Politik als von dem spirituellen Prozess erzählt, im Verlaufe dessen Menschen sich von der vergöttlichten Macht verabschieden und für sie unerreichbar werden. Dieser geistige Prozess beinhaltet immer die Meditation über die Vergänglichkeit der Imperien, der Macht als solchen, aber das gehört nicht hierher. Einige erleben sicher die Apokalypse in sich, aber das ist eine Frage der Mystik, die sich validierbaren Gegebenheiten entzieht. Auf der ideologischen Ebene hat die Offenbarung recht behalten, das Christentum hat als Leitbild gewonnen, eine ganze Ära wurde christlich. Natürlich wird die Offenbarung auch Textstellen beinhalten, die vom Ende der bisherigen Welt erzählen, wer genau liest, wird erkennen, was zeitbezogene Erfindung war (etwa die Feinde aus dem Osten, Sinnbild für die Parther), was aus dem Alten Testament kopierte Textstellen und man wird trotzdem auf manche Bilder stoßen, die so aktuell erscheinen, dass sie nie mehr vergessen werden, etwa wenn sich die Fürsten der Welt vor dem Zorn des Lammes in Höhlen verbergen (6.15).

Nur so am Rande:
Du hast die christlichen Imperien angesprochen, auch wenn mir persönlich der Gedanke daran suspekt ist. Da gab es drei, die fast genau tausend Jahre hielten. Byzanz, Russland und das Heilige römische Reich deutscher Nation. Aber, will das etwas sagen?

Viele Grüße Leseratte


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