Hallo Frank,
Ihr Bericht ist sehr interessant. Denn ich hatte einmal eine ähnliche Erfahrung gemacht, vor etwa zwanzig Jahren. Damals lebte ich noch in Mexiko, wo ich an einer staatlichen Ingenieursschule unterrichtete. Ich hatte zu dieser Zeit keinen großen Kontakt mehr zu meiner Familie in Deutschland, weil ich sehr beschäftigt war. Wir telefonierten einmal in der Woche miteinander, und zwar immer Sonntags zu einem bestimmten Zeitpunkt, wobei ich daheim anrief. So hielten wir den Kontakt aufrecht.
Mein Leben war gut in Mexiko, ich hatte eine sichere Arbeit, die mir Spass machte, einen Freundeskreis, auf den ich mich verlassen konnte. Mit den Schülern kam ich gut aus. Das Leben war schön.
Irgendwann im Sommer jedenfalls begann ich auf einmal nachts schlecht zu schlafen. Mich befiel zuerst eine unbestimmte Unruhe, die sich im Laufe der folgenden Tage zu einer regelrechten Angst vor dem Tod entwickelte. Nach einer Woche war ich geradezu besessen von einer mir unerklärlichen, aber sehr intensiven Todesfurcht. Ich machte nachts kaum noch ein Auge zu, und wenn es mir gelang, etwas Schlaf zu finden, wurde ich geplagt von Alpträumen. Dann befiel mich der Gedanke, ich hätte Hodenkrebs, ich war geradezu besessen davon. Nachts konnte ich an nichts anderes mehr denken. Ich lag stundenlang wach. Immerzu tastete ich mich ab, doch da war nichts, körperlich war alles in Ordnung mit mir.
Doch dann zerfiel ich komplett. Ich schleppte mich nur noch zur Schule und zog irgendwie meinen Unterricht durch. Ich konnte kaum noch essen und verlor Gewicht. Am schlimmsten war jedoch der psychische Verfall. Nachts wachte ich scheinbar grundlos auf und begann zu weinen wie ein kleines Kind, weil ich jetzt sterben müsse. Und immer der Gedanke an Krebs und Tod. Wenn ich morgens vor dem Spiegel stand und mich betrachtete, dann versuchte ich mich zu beruhigen, ich sagte mir, dass alles in Ordnung sei. Doch in Wirklichkeit war nichts in Ordnung. Nach zwei Wochen war ich am Ende. Ich war überzeugt davon, den Verstand zu verlieren und wahnsinnig zu werden. Manchmal ertappte ich mich bei dem Gedanken, der ganzen Qual ein Ende zu setzen, einfach Schluss zu machen.
Und dann kam der sonntägliche Anruf nach zuhause. Meine Mutter war am Apparat. Ich werde diesen Anruf nie vergessen. Sehr ruhig und beherrscht erklärte sie mir, dass mein Bruder ein paar Tage zuvor beim Arzt gewesen sei. Bei der Untersuchung habe man festgestellt, dass er an Hodenkrebs erkrankt sei. Gleich am nächsten Tag sei er operiert worden, und seitdem werde er bestrahlt. Es sei alles bestens verlaufen, und es ginge ihm den Umständen entsprechend gut. Der Tumor habe noch nicht gestreut, so dass ihm wohl keine weitere Gefahr drohe. Wenn er sich von der OP erholt habe, könne er sogar wieder seiner Arbeit nachgehen.
Ich weiß nicht mehr, was ich damals am Telefon geantwortet hatte. Ich begriff erst nach und nach, was vorgefallen war. Jedenfalls war danach der ganze Spuk plötzlich vorbei. Keine Angst mehr, keine schlaflosen Nächte. Es war wieder alles so wie vorher, als wäre nichts gewesen. Außer die Erinnerung an diese zwei schrecklichen Wochen.
So gern ich mich an Mexiko zurückerinnere, diese zwei Wochen möchte ich nicht noch einmal erleben,
versichert ihnen:
Lost centuries