Nichts Kryptisches (aber etwas Zwiespältiges) steckt in dem Rillschen Ausdruck (Schauungen & Prophezeiungen)

RichardS, Mittwoch, 09.04.2014, 15:37 (vor 3909 Tagen) @ Leonessa (5496 Aufrufe)
bearbeitet von RichardS, Mittwoch, 09.04.2014, 15:55

Bei derartigen Aussagen wie "es liegt alles am Boden, wie ein Ungeheuer", kann man wirklich nur spekulieren. Strahlend wie die Sonne sein, tief wie ein Abgrund, usw., usw. versteht jeder und ist auch nachvollziehbar. Aber wie ein Ungeheuer am Boden liegen?
Für mich ist dieser Vergleich einfach nur kryptisch, denn ein Ungeheuer liegt für gewöhnlich eben nicht am Boden. Es droht, bedroht, u.s.w.

Hallo, Leonessa!

So unterschiedlich sind die bisherigen Deutungsversuche des Rillschen Satzes "es liegt alles am Boden wie ein Ungeheuer" doch gar nicht.

Aber der Reihe nach:

Taurecs Gedanke ("Insofern heißt ungeheuer nichts weiter als unheimlich") ist sicher etwas zu kurz gegriffen. "Ungeheuer" ist mehr als nur (!) "unheimlich", bzw. "etwas Angst einflößendes". Denn: Manchem flößt schon eine Spinne Angst ein; oder eine dunkle Gestalt in einer dunklen Gasse ist ihm unheimlich; oder das Agieren unserer Regierung gruselt ihn. Wer von einem "Ungeheuer" spricht, meint in der Regel mehr.

Insofern trifft Dein Einwand schon zu, wenn Du schreibst: "Es beißt, verschlingt, stiftet Unfrieden, ist mitleidlos, oft auch giftig im wahrsten Sinn des Wortes, ist stark beängstigend, unmenschlich. So wird es jedenfalls im alltäglichen Sprachgebrauch definiert und auch verwendet."

Doch möchte ich hinzufügen: Derjenige, der mit einem "Ungeheuer" konfrontiert wird, fühlt sich nicht nur bedroht (von etwas stark Ängstigendem und Unmenschlichem) - sondern er fühlt gleichzeitig auch seine eigene Ohnmacht diesem ihn Bedrohenden gegenüber, bzw. zumindest die große Gefahr, seine Konfrontation mit einem "Ungeheuer" mit dem eigenen Leben bezahlen zu müssen. Dieser Bedeutungsgehalt ist Deinem Bild von "verschlingen", "mitleidslos", "giftig", "unmenschlich" usw. zwar implizit, sollte aber ausgesprochen werden - weil: Damit bist Du plötzlich gar nicht mehr soweit von Taurecs anderem Gedanken entfernt, wenn dieser schreibt:

"Andere Möglichkeit: Rill meinte mit "alles liegt am Boden wie ein Ungeheuer" soviel wie "wie ein gefallener Riese/Ungetüm"."

Von 'Riese/Ungetüm', also von im Vergleich zu einem selber etwas Übergroßem, ist es nicht mehr weit, dieses als etwas Übermächtiges wahrzunehmen (was da aber auf einmal am Boden liegt und in diesem Moment eben gar nicht mehr mächtig ist und das Leben anderer, einschließlich einen selber, bedroht!).

Und wenn wir nun mal soweit sind: Was spricht dagegen, wie BB an die 'Krake' der Moderne zu denken bei dem Rillschen Satz: "... es liegt alles (!) am Boden wie (!) ein Ungeheuer"? (Ausrufezeichen von BB)

Trotz aller - bis dahin geltender - Stärke und schierer Omnipotenz liegt "alles" "am Boden". Was wie ein Ungeheuer bis dahin agierte, also alles und jeden vereinnahmte, im Griff hatte, verschlang oder zu verschlingen drohte (auf seine mitleidslose, unmenschliche Art, wie Du sagen wirst), eben das liegt auf einmal, durch was oder wen auch immer gefällt, am Boden. Was soll daran kryptisch sein?

Zu Deiner Antwort auf Ulrich:

"Bei derartigen Aussagen wie "es liegt alles am Boden, wie ein Ungeheuer", kann man wirklich nur spekulieren. Strahlend wie die Sonne sein, tief wie ein Abgrund, usw., usw. versteht jeder und ist auch nachvollziehbar. Aber wie ein Ungeheuer am Boden liegen?
Für mich ist dieser Vergleich einfach nur kryptisch, denn ein Ungeheuer liegt für gewöhnlich eben nicht am Boden. Es droht, bedroht, u.s.w."

Was heißt schon "für gewöhnlich"? So lange es quicklebendig ist, "droht, bedroht, u.s.w." es, da hast Du schon Recht - aber hast Du noch nie von einem Ungeheuer gehört, das seinen Geist aufgab, das gefällt und besiegt wurde? Oder zumindest zwischenzeitlich wie besiegt daliegt? Gerade noch ein Furcht erregendes Monster, liegt es im nächsten Moment am Boden. Als (hoffentlich endgültig) erledigtes Ungeheuer. Wie im Märchen.

Es war ein lebendiges Ungeheuer. Und ist dann nur mehr ein totes (oder zwischenzeitlich ohnmächtiges) Ungeheuer.

An dieser Rillschen Metapher ist nichts kryptisch.

Interessant ist lediglich doch ganz was anderes: Dass Rill 1914 das, was am Boden liegt (den Elsässer zitierend), als "Ungeheuer" bezeichnet. Das macht ihn (oder den Elsässer) geradezu sympathisch. Wie viele denken heute noch an ein Ungeheuer oder ein Monster, wenn sie beispielsweise die EU-Bürokratie in Brüssel oder die anderen Strukturen im eigenen Lande oder die diesen Strukturen übergeordneten Zwangsverhältnisse vor Augen haben, denen sie, ohne gefragt zu werden, unterworfen sind?

Der Rillschen Ausdruck "...es liegt alles am Boden wie ein Ungeheuer" enthält insofern zwar nichts Kryptisches, aber etwas Zwiespältiges: Wenn "alles" wegbricht, bzw. am Boden liegt, dann ist auch alles weg, was trotz aller Zwänge, Gefahren und Bedrohungen bisher eben auch die Bedingung und Grundlage des eigenen Lebens war - Infrastrukturen, 'Versorgung', 'Sicherheit' ... Stattdessen steht man auf einmal vor dem buchstäblichen Nichts. Und doch ist der Mensch auf der anderen Seite dadurch plötzlich auch befreit - von eben jenem, was in Rills Feldpostbrief mit "Ungeheuer" bebildert wird. Eine junge, tatkräftige Generation könnte aus einer solchen Situation dereinst was machen!

Gruß,
Richard

PS: Ulrich weist zurecht daraufhin, dass Sprache, Ausdrücke, Sichtweisen schon auch ihren historischen Kontext haben. Hier haben wir es nicht nur mit einem gebildeten Elsässer zu tun, sondern bei Rill zudem mit einem Mann aus dem Volk aus dem Jahre 1914. Das damalige Bewusstsein ist nicht mit dem heutigen vergleichbar. Interssant ist hier Ulrichs Anmerkung, was die Lektüre von Soldaten an der Front angeht. Unsere "Jungs" in Afghanistan dürften anderes lesen, ihre Familien in der BRD anderes denken als die frühere Generation im Kaiser-Deutschland - auch bezüglich der jeweiligen Herrschaften. Das spiegelt sich natürlich auch in der Sprache wieder.


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