Techniksterben nach dem Spiegelprinzip (Freie Themen)

marromai @, Dienstag, 24.05.2022, 09:39 (vor 912 Tagen) @ Baldur (1635 Aufrufe)

Guten Morgen werter Baldur und natürlich auch allen anderen,

Ich gehe von einem schleichenden Verarmungs- und Enteignungsprozess aus, der sich über Jahrzehnte erstreckt.

Deine Beschreibung des Niedergangs analog einer DDR3.0 (oder eher die konsequente Fortsetzung der DDR2.0) trifft genau das, was ich in meinen obigen Gedanken zum Untergang mit einem langsamen Verarmungsprozess nach römischen Vorbild meinte - die DDR-Verhältnisse beschreiben das wahrscheinlich korrekter, die ich mangels Gnade der frühen Geburt und als "Besser-Wessi" nur vom Hörensagen kenne. Aber es besteht ja eine gute Chance, solche Lebensumstände noch am eigenen Leib zu erfahren.

In einem anderen Beitrag in diesem Faden wurde die Frage gestellt, ob es vielleicht eine Elite geben wird, die auf einem hohen technischen Niveau weiterlebt. Auch wenn dieses Motiv in vielen Dystopien und Science-Fiction-Filmen vorkommt, kann ich mir das nicht so recht vorstellen, zumindest nicht auf längere Dauer. Denn meiner Meinung nach wird für den Erhalt von Technik Fachwissen benötigt, was bereits heute immer mehr schwindet. Selbst wenn sich die Elite "Technik-Sklaven" halten würde, glaube ich nicht, dass die heutige Komplexität aufrecht erhalten werden kann. Und die Singularität werden wir hoffentlich nie erreichen - dann hat die Menschheit sowieso fertig...

Zum Verschwinden der Technik habe ich vor einiger Zeit eine interessante Arbeit gelesen: Die Wiederentdeckung der Demut. Darin wird die These des Spiegelprinzips aufgestellt, nach der technische Errungenschaften in umgekehrter Reihenfolge, in der sie erfunden worden sind, wieder verschwinden werden. Aufgrund der erhöhten Komplexität und analog zum Seneca-Cliff allerdings in der halben Zeit, die sie für ihre maximale Entwicklung zum "Peak Everything" benötigt hatten (dieser liegt bereits hinter uns). Das könnte zum Beispiel bedeuten:

  • Mobilfunk wird vielleicht noch 10-20 Jahre verfügbar sein, danach kann keiner mehr die Netze warten und die Technik weiter betreiben.
  • Computer und Elektronik sind vielleicht noch 20-30 Jahre sinnvoll nutzbar, aber keiner kann sie mehr von Grund auf neu entwickeln, sollten die bisherigen Herstellungsmethoden und Lieferquellen versagen.(*)
  • Verbrennungsmotoren wird es noch ca. 50 Jahre geben, danach verschwindet das Wissen darum (die grüne Ideologie könnte das natürlich noch beschleunigen).
  • Am längsten haben wir vermutlich noch Elektrizität - natürlich nicht in der Qualität wie heute. Instabile Netze, Batterie-Gefrickel mit Solarzellen, notdürftige Generatoren, alles was noch irgendwie aus der Vergangenheit am Laufen gehalten werden kann.

Das Gute daran: Auch die Erreichbarkeit und Mobilität werden wieder schrumpfen. Das Leben wird zwar sicher nicht einfacher, aber unsere hausgemachten Stressfaktoren der Neuzeit verschwinden ebenso. Berlin ist dann für die meisten soweit weg, dass man sich von denen nichts mehr sagen lässt. Sofern sich die Menschen überhaupt noch regieren lassen (wollen), dürfte dies sicher nur auf lokaler Ebene stattfinden. Im schlimmsten Fall etablieren sich regionale Gangs und Warlords - auch eine Art Regierung...

(*)Als E/E-Ingenieur kann ich das sehr gut im Bereich Elektronik und Software beobachten. Die Maker (nicht zu verwechseln mit einem althergebrachten Macher) stöpseln nur noch Module aneinander, kopieren Bibliotheken zusammen und frickeln so lange herum, bis das Ding tut. Vielleicht schreibt man mal noch eine Code-Bibliothek, aber so richtig von Grund auf entwickelt wird nicht mehr. Und das ist im professionellen Umfeld oft nicht besser. Analog zum Überfluss an Energie hat der Überfluss an Speicher- und Rechenkapazität diesen Zustand ermöglicht, den ich alles andere als stabil bezeichnen würde.

Überall lässt sich Tainters Behauptung beobachten: Komplexe Systeme sind dazu gezwungen so lange zu wachsen, bis sie an ihrer Komplexität zugrunde gehen. Die Geschwindigkeit der Veränderung mag uns nicht als Kollaps vorkommen, aber was sind weltgeschichtlich betrachtet schon 10, 50 oder 100 Jahre? Wir sehen wie die Stubenfliege einfach zu viele Bilder pro Zeiteinheit, so dass uns das Geschehen statisch vorkommt - langfristig gesehen sind wir nur ein Blip (ein Messtechnischer Ausreißer von der Nulllinie).

Diese Gedanken beschließe ich mit der nihilistischen Erkenntnis aus Psalm 103,15-16:
Des Menschen Tage sind wie Gras, / er blüht wie die Blume des Feldes.
Fährt der Wind darüber, ist sie dahin; / der Ort, wo sie stand, weiß von ihr nichts mehr.

Was bleibt uns also anderes übrig, als das Leben zu genießen wann immer es geht?

Nachdenkliche Grüße,
marromai


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