Nachtrag zum "Blinden Jüngling" (Schauungen & Prophezeiungen)

IRAN, Mittwoch, 05.03.2025, 09:48 (vor 275 Tagen) @ Taurec (5747 Aufrufe)

Hallo Taurec -

ich danke für Deine Einschätzung zum so genannten "Stuttgarter"!

Du schreibst unter anderem:

Besser wäre es, eigene Visionen ohne Bezüge zum Kanon möglichst authentisch und deutungsfrei zu präsentieren. Damit geht man zwar im allgemeinen Rauschen der Prophezeiungsgläubigen unter, liefert aber etwas, das man auch in ein paar Jahren noch zitieren könnte, wenn sein Versuch, den Prophezeiungskanon zu retten, gescheitert sein wird (und durch andere, aktuellere ersetzt).

Welche neuere 'Schauungen' haben nach Deiner Auffassung den alten Prophezeiungskanon ersetzt? Der Kanon sieht militärische und zivile Auseinandersetzungen in Mitteleuropa (und damit verbundene Ursachen und Folgen). In zeitlicher Nähe zu diesen Ereignissen tauchen außerdem kleinere und größere Naturkatastrophen auf.

Wenn man nur in die Sammelstelle reinschaut, in die ja neuere Schauungen eingetragen werden, so kann ich nicht erkennen, dass die Motive und Bilder heutzutage von anderer Art wären. Insofern verstehe ich Deinen Einwand nicht:

"Wenn es so kommt". Wird es aber nicht.

Was kommt denn Deiner Meinung nach (immer auf Basis von Schauungen) anstelle der Voraussagen des alten Kanons und anstelle der neueren, durchaus ähnlich klingenden Schauungsbelege? Wenn man vor 15 Jahren über 'Prophezeiungen' diskutierte und dabei an Krieg dachte, war es sehr unpassend gemessen an der damaligen politischen Realität. Heute sieht es (leider) etwas anders aus.

Weiteres Thema: Ich habe Dir einen Scan eines Büchleins von Emanuel Jungmann aus dem Jahr 1924 zugeschickt. Es bespricht die Sage vom Blinden Jüngling. Ich werde Dir vielleicht in einigen Wochen noch einen weiteren Scan schicken können, der das Verlagsjahr 1921 hat. Für den Vertrieb in Tschechien musste diese Ausgabe 1921 modifiziert werden (Zensur). Unten füge ich noch die Literaturangaben zu zwei weiteren Artikeln ein, die sich mit der gleichen Sage beschäftigen. Es ergibt sich, dass "der blinde Jüngling" ab dem 18. Jahrhundert als Deckmantel benutzt wurde, um Schauungen, die aus dem Volk und von nur ganz schemenhaft fassbaren Personen stammen, einen publizierbaren Rahmen zu geben. Da wurde selbstverständlich fabuliert und erfunden und vermischt (Fälschung ist ein unpassendes Wort, weil es kein echtes, wahres Original gibt). Aber wenn man die Schmutzschichten ablöst bleibt ein gewisser Kern übrig. Der besteht darin, dass im böhmischen/tschechischen Raum (und in angrenzenden heute österreichischen und deutschen Grenzgebieten) irgendwann einmal in Verbindung mit Kriegsgeschehen eine große Katastrophe stattfinden soll, bei der u.a. die Stadt Prag völlig vernichtet werden wird. Dieses Motiv ist mindestens 300 Jahre alt und speist sich, wie gesagt, aus mehreren Quellen. Ich werde der Sache weiter nachgehen und ggfs. wieder berichten.

Mit freundlichen Grüßen, IRAN

Waldpropheten ; Versuch e. historisierenden Verknüpfung der Weissagungen d. Blinden Jünglings, d. Stormbergers u. d. Mühlhiasls, Mathias Lang / Holl, Friedrich / 1982

Die Weissagungen des blinden Jünglings aus Böhmen : von der religiösen Endzeitstimmung zur nationalen Stereotypisierung / Weger, Tobias / 2015 (hier auch der bislang älteste Nachweis zum Jüngling erwähnt; Mansukript vom ehemaligen Kloster Mělník aus dem Jahr 1585)


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